Die Internierung der Bourbaki-Armee 1871
Die Internierung der Bourbaki Armee in die Schweiz ist ein grosser Akt der Humanität und Solidarität und gleichzeitig auch ein Prüfstein für das junge Rote Kreuz. Der Maler des Panoramabildes, Edouard Castres, legt ein besonderes Gewicht auf die Darstellung dieser humanitären Schweiz. Mit seiner aussergewöhnlichen Themenwahl bricht er aus den gängigen Darstellungsarten für Panoramenbilder jener Zeit aus. Zwar stellt er - wie zu jener Zeit üblich - ein kriegerisches Ereignis dar, doch wählt er dazu einen ungewöhnlichen Zugang. Das Bild zeigt in unpathetischer Weise das Elend des Krieges und die Hilfeleistungen der Schweizerinnen und Schweizer. Das Bourbaki Panorama wird so zu einem nationalen Symbol.
Zwischen dem 1. und 3. Februar 1871 überschreiten 87'000 französische Soldaten und Offiziere zusammen mit Rotkreuz-Helfern, zivilen Flüchtlingen und einigen deutschen Kriegsgefangenen zwischen dem Vallée de Joux, Vallorbe, Sainte Croix und Les Verrières im waadtländischen und neuenburgischen Jura die Schweizer Grenze.
Sie werden von schweizerischen Militäreinheiten, kommandiert vom Aargauer General Hans Herzog, entwaffnet und auf rund 190 Gemeinden in 24 Kantonen verteilt. Die Internierung stellt unser Land vor eine gewaltige Herausforderung, deren erfolgreiche Bewältigung nachträglich eine gehörige Portion Stolz zu Tage fördert. Mehr als 87'000 französische Soldaten aufzunehmen, unterzubringen, zu verpflegen, medizinisch zu betreuen und zu bewachen fordert den jungen Bundesstaat in enormer Weise. Die Armee Bourbakis ist in einem schrecklichen Zustand, gezeichnet von Strapazen, Kälte und Hunger. Der Empfang durch die Schweizer Bevölkerung ist herzlich. Die Internierten werden gepflegt und betreut . Trotzdem sterben rund 1‘700 Soldaten, woran heute noch mehrere Grabmäler erinnern.
Im März 1871 verlassen die Bourbakis die Schweiz und hinterlassen eine stolze Nation in ihrem neuen Selbstverständnis als offenes, solidarisches und humanitäres Land. Nachdem Frankreich die Kosten bezahlt hat, erstattet die Schweiz die Waffen zurück. Die aussergewöhnliche Geschichte der Bourbaki-Armee bleibt in der Erinnerung von Generationen erhalten.
1. Prüfstein für das junge Rote Kreuz
Seit Kriegsbeginn bestehen in allen grösseren Schweizer Städten private und öffentliche Hilfskomitees, welche sich in erster Linie um die eigenen Wehrmänner an der Grenze kümmern. Der überdurchschnittlich kalte Winter lässt zahlreiche Soldaten frieren. Mit dem Versand von Schuhen, Socken, Handschuhen und Geld durch die Hilfswerke wird die Not gelindert.
Ein Hilfskomitee grösserer Dimension besteht schon seit 1863 in Form des ‚Comité international de secours aux militaires blessés’ (Internationales Komitee für Kriegsverletzte), das spätere Rote Kreuz. Es wurde damals auf Initiative von Henry Dunant in Genf gegründet. 1864 veranstaltet man in Genf auf Einladung des Schweizerischen Bundesrates eine Konferenz von 15 europäischen Staaten und den USA. Daraus resultiert ein völkerrechtliches Abkommen zum Schutz (Neutralisation) der Verwundeten und Sanitäter im Konfliktfall (1. Genfer Konvention). Seit 1875 trägt die Organisation den Namen „Internationales Komitee vom Roten Kreuz“ (IKRK).
Der Deutsch-Französische Krieg ist der erste grössere bewaffnete Konflikt, mit dem die junge Organisation konfrontiert wird. In dieser Feuerprobe wächst das Rote Kreuz über sich hinaus. Dies gilt sowohl für die nationalen Gesellschaften, die an der Seite der Armeen im Feld tätig sind, als auch für die Gesellschaften der neutralen Staaten (Belgien, England, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Russland, Spanien und die Schweiz). Schon zu Beginn des Krieges ruft der Schweizer General Hans Herzog schweizerische Militärärzte auf und autorisiert sie, die Kriegsführenden zu unterstützen. Im Jahre 1870 wird ein solcher Dienst von 146 Ärzten und 40 Medizinstudenten geleistet. Der Bundesrat unterstützt diese Aktion, achtet aber darauf, dass die Ärzte beiden Kriegsparteien zur Verfügung stehen. In einem internationalen Netzwerk wird die Verteilung von Hilfsgütern und medizinischen Diensten organisiert.
2. Akt der Humanität
Schon am 26. Januar 1871 weisst Bundesrat Welti die Kantone auf die wachsende Wahrscheinlichkeit einer Internierung hin und kündigt ihnen an, dass jedem Kanton ein bestimmtes Kontingent zugeteilt wird. Er rechnet zu diesem Zeitpunkt noch mit zirka 10'000 Mann, wofür als Unterkünfte die bestehenden Kasernen gereicht hätten. Am 1. Februar werden die Kantone dann über den unmittelbar bevorstehenden Grenzübertritt von über 80'000 Mann informiert!
Die hohe Zahl der internierten Bourbakis erfordert neben dem Einsatz der Behörden und Hilfskomitees auch jenen der Schweizerischen Zivilbevölkerung. Anfänglich sind vor allem die Bewohner der Grenzkantone gefordert. In der Stadt Neuenburg sind in der ersten Nacht rund 10'000 Soldaten unterzubringen. Das ist um so schwieriger, da in Neuenburg das Hauptquartier von General Herzog angesiedelt ist, und sich daher bereits Schweizer Armeeangehörige in grosser Zahl in der Stadt befinden. So nutzt man als provisorische Truppenlager Schulen, Kirchen und Kapellen, Remisen der Post, eine Brauerei, eine Galerie und weitere Lokalitäten.
Abbildung 04: Gemälde von Albert Anker „Hospitalité Suisse“
Der Luzerner Regierungsrat wird in seiner Sitzung vom 9. Februar fortlaufend unterbrochen von den Meldungen neuer Flüchtlingszüge, die in den Bahnhof Luzern eingefahren seien. Telegraphisch wendet er sich an das Oberkommando in Yverdon: “Wir ersuchen um behördlichen Bericht, wohin die zuviel hierher gesandten französischen Soldaten befördert werden sollen.“ Die Kaserne, das Spital und die kantonale Strafanstalt sind zu diesem Zeitpunkt bereits mit 1'700 Internierten voll ausgelastet. Improvisationsfreudig wird daher auch noch die barocke Jesuitenkirche genutzt. Mit zwei Feuerstellen im Innern der Kirche werden die weiteren 1'100 Männer gewärmt. Das Szenario wiederholt sich am 11. Februar, als abends ein weiteres Kontingent mit dem Zug in Luzern eintrifft.
Abbildung 05: Notunterkunft für die Bourbakis in der St. Mangen-Kirche in St. Gallen
Die Raumproblematik wird zusätzlich verschärft, da in jedem Ort neben der Schaffung der Unterkünfte für die Internierten auch immer Platz für ein Bewachungskontingent der Schweizer Armee geschaffen werden muss. Ausserdem ist für die Einrichtung eines Lazaretts, speziell im Fall ansteckender Krankheiten, zu sorgen.
Rund 190 Gemeinden zwischen Genf und Rorschacherberg stellen Unterkünfte für die Internierten zur Verfügung. Vom Sollbestand von rund 130'000 Soldaten finden 87'000 Asyl, Sicherheit und Frieden in der Schweiz: Franzosen und Legionäre aus ganz Europa und Nordafrika. Setzt man die Zahl der Internierten ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl der damaligen Schweiz, die noch nicht mal drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählt, so ergibt sich durch die Internierung ein Anstieg der Kopfzahl um über 3%.
Nach gut sechs Wochen können die Bourbakis bereits wieder nach Hause zurückkehren. Der Betrag von 12,2 Millionen Schweizer Franken wird Frankreich in Rechnung gestellt und bis Mitte 1872 der Schweiz in Raten zurückerstattet.
Neben der Bourbaki-Internierung führt die Schweiz noch weitere humanitäre Aktionen durch. Diese kommen vor allem den Bewohnern des Elsass, von Strassburg und von Belfort zugute. Anlässlich der Belagerung Strassburgs bildet sich in Basel ein Komitee, das mit Hilfe des Bundesrates erreicht, dass 2'500 Frauen, Kindern, Greisen und Kranken freien Abzug aus der besetzten Stadt erhalten. Ein schöner Teil davon kommt vorübergehend in die Schweiz.
Um die Herausforderungen der Internierung der Bourbakis meistern zu können, ist eine breite Welle der Hilfe nötig. Ähnlich wie bei Naturkatastrophen benötigt es im institutionellen Bereich für die Durchführung der Hilfsaktionen an der Basis ein Netzwerk von Organisationen. Das System der Solidarität durch Hilfskomitees, die Hilfsgüter oder Geld sammeln, ist nicht neu. Bereits 1868 war Vergleichbares aufgebaut worden, um die Folgen der alpinen Überschwemmungskatastrophe zu min-dern.
Sowohl die Katastrophe von 1868 wie auch die Internierung haben mit zur Identitäts-findung der Schweiz beigetragen. Beide ersetzen sie die fehlenden erinnerungswürdi-gen militärischen Aktionen als Mobilisierungsereignisse für die Sache der Nation. Solidarität wird zu einem der Markenzeichen des jungen Schweizerischen Bundesstaates.
3. Neutralität und Internierung 1871
Die Schweiz nimmt seit jeher innerhalb der Völkergemeinschaft eine Sonderstellung ein; speziell, wenn vom humanitären Ideal und den daraus resultierenden Massnahmen die Rede ist. Als Geburtsstätte des Roten Kreuzes hat sie das Gebot der Universalität und der Solidarität bereits 1863 zum Kern ihrer Aussenpolitik gemacht. Die Internierung einer ganzen Armee auf neutralen Boden 1871 ist zu jener Zeit allerdings ein Novum. Das gemeinsame Bewältigen dieser grossen Aufgabe stärkt das Selbstbewusstsein der jungen Nation Schweiz.
Der Deutsch-Französische Krieg fällt in eine Phase der Suche nach Inhalt und Aus-legung der Neutralität respektive der Neutralitätspolitik. Im Fall der Internierung ist man sich bewusst, dass die Pflicht des Internierenden darin besteht, den Internierten zu entwaffnen und aus dem Kampf zu nehmen, ihn also zu neutralisieren.
Bundespräsident Dubs interpretiert die Rolle der Schweiz recht offensiv. Er plant, das Gebiet der Schweiz bis nach Venedig und Nizza auszudehnen und ein föderatives Gebilde mit begrenzter militärischer Offensivkraft zu schaffen. Damit soll der wiederholt von Konflikten heimgesuchte Raum in Norditalien beruhigt und so ein Puffer zwischen die Grossmächte gelegt werden. General Herzog erhält daher 1870 den Auftrag ein operatives Gutachten zu erstellen. Die Idee basiert auf den Pariser Friedensverträgen von 1815, aus denen neben der genaueren Definition der schweizerischen Neutralität auch hervorging, dass die Schweiz im Fall eines militärischen Konflikts in ihrem unmit-telbaren Umfeld das Recht zur präventiven Besetzung Nordsavoyens habe. Die Idee der Besetzung kommt während des Deutsch-Französischen Krieges auf und es entbrennt eine intensiv geführte Auseinandersetzung in den Zeitungen. Frankreich verwahrt sich ausdrücklich gegen eine solche Besetzung, da es darin eine unerträgliche Korrektur der Integration Nordsavoyens ins französische Staatsgebiet 1860 sieht.
Weit zurückhaltender interpretiert der Gesamtbundesrat seine Aufgabe als Regierung eines neutralen Landes in der Frage der Vermittlung eines Friedens zwischen den Kriegsparteien. Nach den französischen Niederlagen zu Kriegsbeginn versuchen mehre-re neutrale Staaten eine Vermittlungsaktion zu initiieren, die aber letztlich nicht zu Stande kommt. Der Bundesrat interpretiert die Neutralität in diesem Moment so eng, dass er auf eine Teilnahme verzichtet.
Am 18. Juli 1870 erklärt der schweizerische Bundesrat mit einer Note die Neutralität. Die Note wird den Kriegsführenden und den Garantiemächten zur Kenntnis gebracht. Bismarck erinnert die Schweiz daran, dass sie zur Aufrechterhaltung der Neutralität militärische Massnahmen zu ergreifen habe – sprich: sie ist verpflichtet allfällige Übergriffe auf schweizerisches Territorium mit Waffengewalt zu verhindern. Bismarck schätzt die Abwehrkraft der Schweiz als hoch ein und bezeichnet die Schweizer Armee in den Memoranden von 1858 und 1868/69 als „starke und wohlorganisierte Miliz“.
Die Schweiz ist auch wirklich gewillt, ihr Territorium zu schützen. So werden bereits einige Tage vor Kriegsausbruch fünf Divisionen mit insgesamt 37'000 Mann zum Schutz der nördlichen Grenze aufgeboten. Der Rest der Armee wird auf Pikett gestellt. Hans Herzog aus Aarau wird zum General der aufgebotenen Schweizer Armee ernannt.
Nachdem im August 1870 die militärischen Ereignisse nördlich der Schweiz abgenom-men haben, wird ein Grossteil der Truppen demobilisiert und das Oberkommando aufgelöst.
Am 12. Januar 1871 bittet ein Schweizer Divisionskommandant, der mit seiner Truppe an der Grenze steht, den Bundesrat allerdings wieder um Verstärkung, da vor der Nordwestgrenze starke deutsche Verbände in schwere Kämpfe mit der Bourbaki Armee verwickelt sind. Entsprechend der Verlagerung des Kriegsschauplatzes nach Westen werden die Schweizer Einheiten nachgezogen. Im Vergleich zu den rund 200'000 Mann auf der anderen Seite der Grenze ist das Schweizer Aufgebot mit rund 20‘000 Mann geradezu bescheiden.
Ende Januar 1871 gerät die Bourbaki Armee in Rücklage und wird von den Deutschen gegen die Schweizer Grenze gedrängt. Am 1. Februar 1871 morgens um 02.00 Uhr erscheint ein hoher französischer Offizier im Grenzort Les Verrières und wünscht General Herzog zu sprechen, um mit ihm den Übertritt seiner Armee in die Schweiz zu verhandeln. Da er aber keine schriftliche Vollmacht besitzt, schickt ihn Herzog wieder zurück, eine solche zu besorgen. Die so gewonnene Zeit nutzt Herzog, um die Übertrittsbedingungen zu bereinigen, die er stellen will. Grundlage dazu bildet eine Verordnung des Bundesrates vom 16. Juli 1870 wonach übertretende einzelne Flüchtlinge oder Deserteure auf angemessene Entfernung zu internieren und bei Auftreten in grösserer Zahl an einem oder mehreren geeigneten Plätzen im Innern der Schweiz unterzubringen, militärisch zu organisieren und zu verpflegen seien. 1 ½ Stunden später kehrt der französische Offizier mit der Vollmacht zurück und Herzog diktiert die Bedingungen in einem Privathaus von Les Verrières.
Schon wenige Stunden darauf kommen die Bourbakis in langen Kolonnen über die Grenze in die Schweiz. Direkt beim Grenzübertritt müssen die Soldaten gemäss den Vereinbarungen der Übertrittskonvention ihre Waffen abgeben. Diese Entwaffnung wird von deutscher Seite kontrolliert. Mit der Entwaffnung kommt die Schweiz ihrer Verpflichtung als internierender, neutraler Staat nach.
Insgesamt werden 284 Geschütze und Mitrailleusen (mehrläufige Schnellfeuergewehre), 1'158 Kriegsfuhrwerke, 64'800 blanke Waffen und 63'400 Gewehre sichergestellt. Die Materialhaufen werden in die Materialdepots im Innern der Schweiz abtransportiert, sobald die Strassen wieder frei von Soldaten, Tierkadavern und defektem Kriegsgerät sind.
Abbildung 06: Foto des Lagers für Fuhrwerke und Kanonen in Colombier, 1871
4. Stationen der Schweizer Neutralität von gestern bis heute
Die Neutralität war und ist ein zentrales Element der schweizerischen Aussen- und Sicherheitspolitik. Historisch und verfassungsrechtlich war die Neutralität aber nie ein Ziel unseres Staatswesens an sich, sondern eines unter mehreren Mitteln zur Verwirklichung der eigentlichen zentralen Ziele, nämlich insbesondere der Aufrechterhaltung einer möglichst grossen staatlichen Unabhängigkeit. Die Neutralität war denn auch in der Geschichte unseres Landes nicht ein starres, ein für allemal fixiertes Institut. Vielmehr hat die Schweiz die Neutralität immer wieder flexibel den internationalen Notwendigkeiten und den eigenen Interessen angepasst.
Die Neutralität ist eng mit der Geschichte der Eidgenossenschaft verbunden und hat deren Schicksal während Jahrhunderten mitgeprägt. Die „Nichteinmischung in fremde Händel“ war seit dem 16. Jahrhundert für die Eidgenossenschaft die zweckmässigste sicherheits- und aussenpolitische Haltung, um zwischen den sich bekämpfenden europäischen Grossmächten als eigenständiger Staat überleben zu können. Zugleich bildete sie eine innenpolitische Notwendigkeit in einem Staatenbund, der von Interessen-, Konfessions-, Sprach- und Kulturgegensätzen geprägt war und ist.
Neutralität ist ein vielschichtiges Konzept des Völkerrechts und der Politik, das unter den besonderen Machtkonstellationen des 18. und 19. Jahrhunderts zum Bestandteil der juristischen und politischen Ordnung geworden ist. Kurz ausgedrückt bedeutet Neutralität im Völkerrecht die Nichtteilnahme eines Staates an Kriegen zwischen anderen Staaten. Die Schweiz konnte sich ganz auf ihre Innenpolitik konzentrieren. So trug die Neutralität auch indirekt zum Auf- und Ausbau der direkten Demokratie, des Föderalismus, des Wohlstandes und der auf dem Milizprinzip beruhenden Verteidigungsarmee bei. Die Neutralität ermöglichte das Abseitsstehen zwecks Erhaltung des Eigenen – der „Sonderfall Schweiz“ entstand.
Aus dieser Haltung entwickelte sich nach und nach die sogenannte dauernde Neutrali-tät. Die Schweiz verpflichtete sich damit, in jedem kommenden Konflikt, wer auch immer die Kriegsparteien seien, wann und wo auch immer ein Krieg ausbrechen möge, militärisch neutral zu bleiben. Zudem handelt es sich bei der schweizerischen Neutralität auch um eine bewaffnete Neutralität, d. h. die Schweiz ist entschlossen, ihre Unabhängigkeit gegen jeden Angreifer militärisch mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen und neutralitätswidrige Handlungen kriegführender Staaten auf ihrem Gebiet zu verhindern. Am Wiener Kongress 1815 wurde die schweizerische Neutralität von den damaligen Grossmächten anerkannt.
In der Folge trug die dauernde Neutralität neben anderen Elementen dazu bei, dass das Staatsschiff Schweiz den oft hohen und rauhen Wellengang des 19. und 20. Jahrhunderts und vor allem die Stürme der zwei Weltkriege überstehen konnte.
Aus heutiger Sicht ist das Neutralitätsrecht in vielerlei Hinsicht lückenhaft und zu wenig den aktuellen Begebenheiten angepasst. Seit 1907 wurde es nie mehr erneuert und hat daher an Wirkungskraft verloren. Es ist auf das klassische Bild europäischer Kriege des 19. Jahrhunderts, d. h. offene und mit konventionellen Waffen geführte Kampfhandlungen unter weitestgehender Ausklammerung der wirtschaftlichen und ideologischen Kriegsführung abgestimmt und daher überholt. Es enthält keine explizite Regelung für den Luftkrieg und gibt keine Antworten auf neuere Formen und Akteure von Gewalt, wie z.B. indirekte Kriegsführung, wirtschaftliche und politische Erpressung und Terrorismus.
Weiter ist die Schweiz im Gegensatz zu früher von lauter friedlichen Nachbarstaaten umgeben, die wie sie die Werte Menschenrecht, Demokratie, Rechtsstaat und in unterschiedlichem Masse Föderalismus verwirklicht haben und unsere besondere Staatsstruktur nicht mehr bedrohen. In einem solchen Umfeld verliert die Neutralität für die Bewahrung einer innenpolitischen Sonderstellung an Bedeutung.
Die dauernde Neutralität ist heute also in erster Linie ein Mittel der nationalen Sicherheitspolitik. Mit ihrer Hilfe soll die Sicherheit unseres Landes gewährleistet werden. Zudem bringt ein verlässlicher Neutraler auch für seine Nachbarn Berechenbarkeit und Stabilität. Neben dieser passiv friedenspolitischen Funktion leistet die Schweiz in der Form ihrer Guten Dienste aber seit langem auch einen aktiven Friedensbeitrag. Allerdings muss gesagt werden, dass die Anfragen bei der Schweiz nach ihren Guten Diensten seit dem 2. Weltkrieg abnehmen. Für solche Aufgaben werden vermehrt internationale Organisationen (UNO: Blauhelme, Wahlbeobachter, Waffenstillstandsbeobachter, Untersuchungskommissionen) oder auch regionale Einrichtungen (KSZE, EU, Arabische Liga) herangezogen.
Im 20. Jahrhundert wuchs Europa und die Welt wirtschaftlich und sicherheitspolitisch zusammen. Die Schweiz lehnte zwar einen Beitritt zum EWR und zur EU ab, richtete sich aber in nichtmilitärischen Sanktionen vorwiegend nach der UNO (Irak, Somalia und Liberia, Serbien und Montenegro).
5. Überblick: Stationen der Schweizer Neutralität von gestern bis heute
1674 | Erste offizielle Neutralitätsverkündigung der alten Eidgenossenschaft an einer Tagsatzung. |
18. Jh. | Bewaffnete Neutralität wird zum Gewohnheitsrecht. Solddienste (v.a. für die Franzosen) sind aber weiterhin erlaubt. |
1805/1806 | Napoleon respektiert die Schweizer Neutralität nicht und verlangt von seinem Satellitenstaat, dass er ein Defensivbündnis gegen Österreich eingeht und die Kontinentalsperre gegen Grossbritannien mitmacht. |
1815 | Wiener Kongress: Die Schweizerische Neutralität wird zum ersten Mal schriftlich festgehalten und völkerrechtlich (international) anerkannt. Es werden keine Allianzen mehr geduldet (auch nicht defensive). Die Neutralität soll immerwährend und integral sein. |
1817 | Unter dem Druck der geeinten Grossmächte tritt die Schweiz trotz ihrer Neutralität der Heiligen Allianz bei. |
1848 | Bundesstaatsgründung: Die Neutralität wird innerstaatlich verankert. |
1863 | Henri Dunant gründet das Rote Kreuz mit Sitz in Genf |
1871 | Internierung der Bourbaki-Armee |
1880-1900 | Schweiz wird Sitz verschiedener internationaler Organisationen |
1907 | weite Haagener Friedenskonferenz: Das im 19. Jahrhundert gewohnheitsrechtlich entwickelte Neutralitätsrecht wird hier teilweise kodifiziert: Rechte eines neutralen Staates Pflichten eines neutralen Staates |
1. WK | Die Schweiz kann die Neutralität aufrechterhalten. |
1920 | Die Schweiz wird Mitglied des Völkerbundes und verpflichtet sich an dessen wirtschaftlichen, nicht aber den militärischen Zwangsmassnahmen teilzunehmen. |
1938 | Schweiz gibt die Verpflichtungen des Völkerbundes auf. |
2. WK | Zwischen Neutralität und Anpassung: Schweiz lässt beispielsweise Waffentransporte von Deutschland durch ihr Land nach Italien zu. |
Kalter Krieg | Asymmetrische Neutralität: Die Schweiz ist nicht blockfrei, das zeigt zum Beispiel der Fakt, dass sie bei den Unruhen in Ungarn ganz klar für die Revolutionären Stellung nimmt (1968), beim Sturz Allendes in Chile sich aber nie äussert (1973). |
1989 | Fall der Berliner Mauer: Mit den epochalen Umwälzungen im östlichen Europa findet der „Kalte Krieg“ und die damit verbundene Konfrontation zweier unterschiedlicher Lager ein Ende. Einerseits eröffnet sich nun die Möglichkeit für ein friedliches, vereintes Europa in Freiheit (EU), anderseits kommen unterdrückte oder neue Konflikte und damit neuartige Instabilität zum Vorschein (Tschetschenien, Jugoslawien, ETA, Röstigraben...). |
1990/91 | Golfkrieg: Schweiz trägt die von der UNO bestimmten nichtmilitärischen Sanktionen solidarisch mit: umfassende Wirtschaftssanktionen verbunden mit einer See- und Luftblockade gegen den Irak. An militärischen Sanktionen beteiligt sie sich allerdings nicht: das Überfliegen der Schweiz durch Kampfflugzeuge oder Truppen- und Munitionstransportmaschinen der UNO wird nicht gestattet. |
1992 | Schweiz beteiligt sich an den Wirtschaftssanktionen der UNO gegen Somalia und Liberia. |
1993 | Schweiz beteiligt sich an den Wirtschaftssanktionen der UNO gegen Ser-bien und Montenegro. Das Überfliegen der Schweiz ist zum ersten Mal für die in UNO-Mission stehenden Flugzeuge erlaubt! |
2002 | Am 3.3.2002 stimmt das Schweizer Stimmvolk dem UNO-Beitritt zu. Die Stimmbeteiligung ist mit 57,6 Prozent sehr hoch. |