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Es braucht mehr Landesgeschichte an Schweizer Schulen

Beitrag in der NZZ am Sonntag von 3. Juni 2018

Nationalgeschichte schliesst viele aus, Globalgeschichte geht viele nichts an. Die Schulen müssen die Geschichte unserer Lebenswelt lehren. Das ist Landesgeschichte, schreibt Peter Gautschi.

Schweizer Geschichte ist im Gespräch

Regelmässig erscheinen dazu neue wissenschaftliche Publikationen, ausserdem Romane, Comics und Spielfilme, die jeweils grosse Aufmerksamkeit gewinnen. In der Öffentlichkeit wird auch darüber diskutiert, wie Schweizer Geschichte zu erzählen sei. So hat Marc Tribelhorn am 4. Mai in der NZZ im Beitrag «Mitten in der Welt» nüchterne Erzählungen gefordert, welche die Schweiz nicht aus sich heraus erklären, sondern sie in ihrer globalen Verflechtung zeigen sollen.

Schweizer Geschichte ist natürlich auch deshalb im Gespräch, weil viele sie für einen bestimmten Zweck brauchen. Das ist nichts Aussergewöhnliches. Geschichte im Allgemeinen und Schweizer Geschichte im Besonderen wurden und werden immer wieder benutzt. Der Schweizer Historiker Guy P. Marchal hat dafür den Begriff «Gebrauchsgeschichte» gewählt und ihn wie folgt definiert: «Gebrauchsgeschichte ist jene Geschichte, die immer wieder zum Einsatz kommt, um eigene Positionen historisch zu legitimieren. Gebrauchsgeschichte par excellence ist etwa jene, die der nationalen Identität dient...»

So ist denn im Umgang mit Schweizer Geschichte in Öffentlichkeit und Schule nicht nur zu fragen, was und wie erzählt wird, sondern auch wozu. In einer internationalen Studie zur Vermittlung der Geschichte des eigenen Landes zeigen sich fast überall drei unterschiedliche Zielrichtungen: Erstens wird die Geschichte des eigenen Landes erzählt und vermittelt, um Identität aufzubauen. Das war in der Schweiz bis weit hinein in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts dominant, wie das folgende Zitat aus dem Lehrplan für die Primarschule des Kantons Bern von 1947 zeigt, der bis 1982 gültig war: «Die nationale Aufgabe erfüllt der Geschichtsunterricht in unserem Vaterland dann, wenn er zum guten Eidgenossen erziehen hilft.» Zweitens wird die Geschichte des eigenen Landes gebraucht, um Lesende und Lernende in ihrer kritischen Haltung zu bestärken. Sie sollen historisches Denken lernen, denn wer das kann, erkennt und durchschaut sogenannte Fake-News. Drittens soll Geschichte des eigenen Landes zeigen, wie es hier war und wieso es heute so ist, wie es ist.

Identität aufbauen, kritisches Denken vermitteln oder Verstehen ermöglichen?

Natürlich müssen sich die drei Zielrichtungen des Umgangs mit Schweizer Geschichte nicht ausschliessen, aber es ist an der Zeit, dem Verstehen wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dies wird erleichtert, wenn verstärkt Landesgeschichte in den Blick genommen wird.

Landesgeschichte beschäftigt sich mit einem überschaubaren Lebensraum, einer Lebenswelt, die im Unterschied zur Nation nicht klar mit Grenzen umfasst ist und keine zweckgeleitete Perspektive hat. Ein Land ist eine historisch gewachsene Region mit struktureller Kohärenz, die von Menschen mit ihren Mentalitäten, Sprachen, Religionen, Festen, Bräuchen geprägt wird. Im Land findet das Leben statt, entstehen Freundschaften, leben wir und die andern zusammen, haben und lösen wir Probleme, zeigt und trifft sich die Welt.

Landesgeschichte – so verstanden – ist dank der Überschaubarkeit des Raums und der Lebenswelten in der Lage, dicht zu analysieren sowie Alltags- und Verflechtungsgeschichte zu verbinden. Auf diese Weise ergibt sich die Chance, «die Geschichte der Menschen in den Strukturen zu erkennen und die geschichtliche Entwicklung so zu begreifen, dass sie den heutigen Menschen nicht fremd und äusserlich bleibt, sondern gegenwärtig wird» – wie das Heiko Haumann in seinem Buch «Lebenswelten und Geschichte» treffend formuliert hat.

Natürlich muss auch Landesgeschichte sowohl wissenschaftlich genau erzählt als auch kompetent vermittelt und darüber hinaus gesellschaftlich relevant sein. Sie muss also – ganz kurz gesagt – wahr, wirksam und gut sein. Am anspruchsvollsten ist es sicher, zu bestimmen, was gut ist. Gut für die Schule scheint mir Landesgeschichte dann zu sein, wenn sie mithilft, alle im Land Lebenden in die Gemeinschaft zu integrieren und ihnen Partizipation zu ermöglichen: Alle sollen und müssen die Geschichte des Landes, in dem sie leben, verstehen, um aufgeklärt, emanzipiert, sorgsam und selbstbewusst die Zukunft ihrer Lebenswelt mitgestalten zu können.

Solche Landesgeschichte ist in der Deutschschweiz mit dem Lehrplan 21 und den neuen interkantonalen und regionalen Geschichtslehrmitteln möglich, wird aber zu wenig realisiert. Es gilt deshalb, die Vorbehalte in vielen Köpfen gegen Landesgeschichte zu entkräften, denn Landesgeschichte ist nicht Nationalgeschichte, die viele ausschliesst, und sie ist nicht Globalgeschichte, die viele nichts anzugehen scheint, sondern sie ist Lebensweltgeschichte, die uns alle betrifft.

Über den Autor

Peter Gautschi leitet als Professor das Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der Pädagogischen Hochschule Luzern. Gautschi unterrichtete als Lehrer auf allen Volksschulstufen, promovierte an der Universität Kassel und ist Honorarprofessor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Breisgau.

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